Was ist Familie?

Was ist Familie?

Die Entdeckung dieser Persönlichkeiten in meinem Stammbaum sowie die Entdeckung weiterer verwandtschaftlicher Beziehungen in meinem beruflichen Umfeld lassen mich weiter sinnieren über die Frage: Was ist Familie und Verwandtschaft eigentlich?

Dass es nicht nur eine Frage von gleichem Blut und Vererbung sein kann, habe ich aus rein subjektiver Sicht bereits dargelegt. Es erschließt sich aber auch aus objektiver Betrachtung. Es ist ja geradezu eine Grundvoraussetzung, dass eine Familie nur entstehen kann, wenn zwei Menschen, die eben gerade nicht blutsverwandt sind (zumindest nicht in einem engeren Grad), sich – aus welchen Gründen immer – entscheiden, miteinander eine Familie gründen, eine Familie sein zu wollen. Es ist offensichtlich, dass es in vergangenen Zeiten vielfach nicht die ureigene, persönliche Liebesentscheidung für einen Menschen war, sondern dass oft Eltern oder sachliche Gründe entschieden haben, wer zueinander zu passen hat, meist gepaart mit durchaus vernünftigen, wirtschaftlichen Überlegungen. Ich erinnere an die zahlreichen Witwenverehelichungen, denen ich im Lauf meiner Familienforschung begegnet bin, die mir zunächst ein Schmunzeln entlockt haben, deren tieferer Sinn sich dann aber allmählich erschlossen hat.

Auf jeden Fall entsteht in dem Augenblick, in dem eine solche Verbindung öffentlich bekundet wird (Eheschließung), nicht nur eine Beziehung zwischen zwei Menschen, sondern es verdichtet sich ein verwandtschaftliches Geflecht zwischen zwei (Groß-)Familien, ob es einzelnen in diesen Familien nun passt oder nicht. Und gerade die konfliktreichen Entwicklungen innerhalb von Ehen legen oft erst nach und nach offen, dass ich nicht nur einen einzelnen Menschen geheiratet habe, sondern mit ihm eine ganze Familiengeschichte, die hinter dem Einzelnen steht, ihn/sie prägt durch Vergangenheit (Erziehung, Erfahrungen), aber auch durch gegenwärtige Beeinflussungen.

Das Wesentliche sind und bleiben aber doch die Menschen, die als Kernfamilie ihren Alltag, ihren Haushalt, ihr Leben mit seinen Höhen und Tiefen miteinander teilen, und die, mit denen man darüber hinaus zumindest gelegentlich in Kontakt steht. Zu manchen mag die Beziehung sehr innig sein, mit anderen liegt man vielleicht ein Leben lang im Clinch – es ist egal: so oder so prägen sie mein Leben mit. Auch die, die eigentlich da sein sollten – und es dann doch nicht sind. Die weiter entfernten Verwandten sind meist nur dann interessant, wenn man sie anlässlich größerer Familienfeiern kennen lernt, wenn es sich um Menschen mit öffentlicher Aufmerksamkeit handelt, oder wenn man überraschenderweise bei Menschen, die man bereits kennt, auf verwandtschaftliche Beziehungen stößt.

Die Gründe, warum Maria (Mitzi) Waltersdorfer (1894-1977) ihren um 30 Jahre jüngeren Cousin zweiten Grades, Johann Kerschberger (1923-1977), meinen späteren Vater, bereits im Alter von zwei Jahren als Ziehkind aufnimmt, kann ich nur vermuten. Es ist wohl einerseits der starke Wunsch ihrer eigenen Mutter, enge verwandtschaftliche Beziehungen zur Herkunftsfamilie der Kerschberger aufrechtzuerhalten (Mitzis Großmutter ist eine geborene Kerschbergerin, und Mitzis Mutter und sie selbst sind Taufpatinnen bei zahlreichen Kerschberger-Kindern), aber wohl auch schon die Perspektive, da sie selbst ehe- und kinderlos bleibt, einen weiteren starken Mann zusätzlich zum einzig überlebenden Bruder am Hof zu haben. Als dieser Bruder (Rudolf Waltersdorfer, 1907-1945) dann auch noch ein Opfer des 2. Weltkrieges wird, steht der Weg offen, im Jahr 1951 den mittlerweile 28-jährigen Ziehsohn zu adoptieren, um ihm Haus und Hof überschreiben zu können. So entsteht also plötzlich zwischen meinem Vater und der Familie Waltersdorfer, mit er bisher schon etwas entfernter verwandt ist (zur Erinnerung: seine Zieh- und Adoptivmutter, die einzige waschechte Waltersdorferin in unserer Familie, ist seine Cousine zweiten Grades) eine neue, enge Verwandtschaft, in der diese Cousine nunmehr zu seiner zweiten Mutter wird.  An seiner Lebensform und Lebenswelt ändert das nichts. Er bleibt weiterhin im Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hat und in der Landwirtschaft, die er nach Rudis Tod als alleiniger Mann am Hof weitergeführt hat. Ob nun als Ziehsohn oder als Adoptivsohn – er gehört immer schon (auch wenn ihm die Beziehung zu seiner leiblichen Mutter und zu seinen Geschwistern ein Leben lang wichtig bleibt) zur Familie Waltersdorfer in der Kohleiten, seit seiner Adoption nun auch de jure.

Ich kann es also durchaus auch ganz pragmatisch sehen, dass am Hof am Galgegg nicht darüber gesprochen wird, wer (möglicherweise) Antons wirklicher Vater ist. Es ist kein Thema, das man extra tabuisieren müsste. Es gibt einfach keinen Grund, darüber zu sprechen. Johann nimmt seine Maria an und bekennt sich auch offiziell zu dem Kind, das sie bereits in ihrem Leib trägt. (Vielleicht ist es ja doch seines – aber das könnten uns wohl nur Johann und Maria selbst sagen.) Und ob die Geschwister, die am Hof miteinander aufwachsen, nun ganze oder nur halbe Geschwister sind, sollte keine Rolle spielen.

So ist es auch im Haus meiner Großmutter mütterlicherseits kein Problem, dass die vier Kinder von drei verschiedenen Vätern stammen. Denn das Schicksal will es, dass derjenige, für den sich meine Großmutter dann entscheidet, sein Leben im Krieg verliert. Die Jüngste unter den Geschwistern verdankt ihr Leben nur einem kurzen Heimaturlaub von der Front. Als sie zur Welt kommt, ist ihr Vater bereits tot, gefallen in jenem mörderischen Krieg, der so viele Kinder ihrer Väter beraubt. Umso wichtiger ist es für die vier (Halb-)Geschwister, dass sie zusammenstehen und eine Stütze ihrer Mutter sind. Und dass sie sich dabei nie als halbe, sondern immer als ganze Geschwister empfinden. Doch das ist eine andere Geschichte, die aufzuschließen mir hoffentlich noch genügend Zeit bleibt. Denn alle Verzweigungen eines komplexen Familiengeflechts aufzudröseln, dafür bräuchte es wohl mehr als ein Leben.

Und so sind es letztlich über den engen Familienkreis hinaus immer nur kleine Lichtblitze, die da und dort für einige Augenblicke einzelne Personen aus dem großen Gewirr hervortreten lassen und eine kleine Ahnung vom weitverzweigten Feld der Verwandtschaft geben.

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